Welche Partialwirkungen haben Gestagene?

Neben ihrer kontrazeptiven Verwendung können Gestagene aufgrund ihrer Partialwirkungen für verschiedene Indikationen therapeutisch eingesetzt werden.


Einteilung der Gestagene in Präparategenerationen

Gestagene in hormonellen Kontrazeptiva werden in der Literatur oft je nach Entwicklungszeitraum (Anfang 60iger, 70iger und 80iger) in „Präparategenerationen“ aufgeteilt. Ältere kombinierte Pillen enthalten die Gestagene Levonorgestrel, Norgestimat oder Norethisteron. Diese Präparate werden als „Pillen der 1. und 2. Generation“ bezeichnet. Die Pillen der 3. und 4. Generation enthalten als Gestagenkomponente u.a. Dienogest, Gestoden, Desogestrel, Drospirenon, Chlormadinonacetat, Etonogestrel oder Nomegestrolacetat.1

Auch das Gestagen Cyproteronacetat zählt zur 4. Generation. Allerdings ist das Präparat „Diane-35“ sowie Generika aufgrund des hohen Thromboserisikos seit 2014 nur noch zur Behandlung von mäßig schwerer bis schwerer Akne aufgrund von Androgenempfindlichkeit und/oder Hirsutismus zugelassen, nicht mehr ausschließlich für die orale Kontrazeption.

Sinnvoller ist allerdings eine Einteilung der Gestagene nach ihrem Wirkungsspektrum anstatt nach Generationen. Einige Gestagene werden nur in Kombinations- und andere ausschließlich in Monopräparaten verwendet.

Einteilung der Gestagene nach pharmakologischer Wirksamkeit

Die Beurteilung der pharmakologischen Wirksamkeit der verschiedenen Gestagene erfolgt anhand ihrer Fähigkeit, die Menstruation zu verschieben und proliferiertes Endometrium sekretorisch umzuwandeln.2 Außerdem ist die Potenz, die Ovulation zu unterdrücken, ein entscheidendes Kriterium. Darüber hinaus können die unterschiedlichen Partialwirkungen der Gestagene bei verschiedenen Indikationen therapeutisch genutzt werden.

Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit des Progesteronrezeptors mit dem Androgen-, Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptor können Progesteron und synthetische Gestagene bzw. einige ihrer Metabolite an diese Rezeptoren binden und als Agonisten oder Antagonisten wirksam werden (Tab. 1). Das Spektrum der hormonellen Partialwirkungen und die Wirkungsstärke sind von der jeweiligen Struktur des Gestagens abhängig. Jedoch sei erwähnt, dass die Angaben für die Partialwirkungen überwiegend aus Tierexperimenten stammen und somit nur mit Vorbehalt auf die Klinik übertragen werden können.

Die wichtigste Entscheidung bei der Erstverschreibung eines kombinierten Präparates in der Frauenarztpraxis fällt mit der Wahl der Gestagenkomponente. Nach den Empfehlungen der Arzneimittelbehörden3 sowie der Bundesärztekammer4 gelten aufgrund eines vergleichsweise niedrigen Risikos für venöse Thromboembolien Kombinationen von Levonorgestrel und Ethinylestradiol (in einer Dosierung von 30 µg oder weniger) als Methode der ersten Wahl für die Erstverordnung bei Frauen ohne Kontraindikationen oder spezielle Begleiterkrankungen bzw. bei Frauen mit erhöhtem Thromboserisiko.

Bei bereits bestehenden Androgenisierungserscheinungen (z.B. Akne, Alopezie, Hirsutismus) sollten hingegen Präparate mit antiandrogenen Gestagenen erwogen werden, beispielsweise Kombinationen mit Dienogest, die auch zur Behandlung der mittelschweren Akne zugelassen sind.

Tabelle 1: Partialwirkungen der Gestagene (modifiziert nach Wiegratz & Thaler 20115, Kuhl 20052)

Bei prädisponierten Frauen, besonders bei Jugendlichen, kann die Anwendung von Gestagenen mit androgener Partialwirkung zu leichten Androgenisierungserscheinungen (z.B. Akne, Seborrhö oder Hirsutismus) führen. Dies wurde z.B. bei Levonorgestrel (LNG) oder 3-Keto-Desogestrel (KDG) beobachtet. Ursache sind höchstwahrscheinlich Funktionsstörungen innerhalb des Haarfollikels bzw. der Talgdrüsen durch erhöhte Serumkonzentrationen von Testosteron.6 Die unter der Behandlung mit Depot-MPA (DMPA, Dreimonatsspritze) beobachteten leichten androgenen Erscheinungen hängen wohl meist mit einem Estrogenmangel aufgrund einer starken Suppression der Ovarialfunktion zusammen.

Die antiandrogenen Effekte von einigen Gestagenen können bei Akne, Hirsutismus oder androgenetischer Alopezie ausgenutzt werden. Hier kommen Chlormadinonacetat (CMA), Cyproteronacetat (CPA), Dienogest (DNG) oder Drospirenon (DRSP) infrage (Abb. 1).7

Die glukokortikoiden Eigenschaften von Desogestrel (DSG) und Gestoden (GSD) können sich in den üblichen Dosierungen auf die Gefäßwände auswirken. Grund kann eine Hochregulation des Thrombinrezeptors in den vaskulären glatten Muskelzellen sein.8 Durch die Aktivierung des Thrombinrezeptors kann Thrombin die Bildung des Tissue-Factors stimulieren. Dadurch wird die prokoagulatorische und vasokonstriktorische Aktivität in der Arterienwand verstärkt. Entsprechend wäre bei Vorliegen von Gefäßschäden das Risiko von ischämischen Erkrankungen erhöht. Möglicherweise trägt dieser Effekt auch zur Erhöhung der Inzidenz venöser thromboembolischer Erkrankungen bei, die bei der Anwendung von Ovulationshemmern der 3. Generation beobachtet wurde.

Eine antimineralokortikoide Wirkung findet sich bei Progesteron, Drospirenon und Gestoden.9

Auswahl der Gestagenkomponente bei KOK

Abbildung 1: Auswahl der Gestagenkomponente bei kombinierten oralen Kontrazeptiva hinsichtlich der antiandrogenen Wirksamkeit (Ludwig 2015)7 (CMA = Chlormadinonacetat; CPA = Cyproteronacetat; LNG = Levonorgestrel; NET = Norethisteron).

  1. Die Pille – das Problem mit dem Gestagen – und die Vermeidung von Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Online unter: www.kv-thueringen.de/fileadmin/media2/Verordnung/Arznei-_Verbandmittel/6000_RS-ARZNEI_2021_09_0013.pdf. Letzter Zugriff: 02.05.2023.

  2. Kuhl, H. (2005, Aug). Pharmacology of estrogens and progestogens: influence of different routes of administration. Climacteric, 8(Suppl 1), pp. 3-63.

  3. Rote-Hand-Brief. Kombinierte hormonale Kontrazeptiva: Unterschiede hinsichtlich des Thromboembolie-Risikos unterschiedlicher Präparate; Bedeutung von individuellen Risikofaktoren und Beachtung von Anzeichen und Symptomen (30. Januar 2014). Online unter: www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2014/rhb-khk.pdf. Letzter Zugriff: 02.05.2023.

  4. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. (2014). Arznei¬mittel¬kommission der Deutschen Ärzteschaft: UAW-News International Bei der Verschreibung von kombinierten hormonalen Kontrazeptiva sollte das Risiko für thromboembolische Ereignisse berücksichtigt werden. Deutsch Ärztebl, 111(37), S. A1533-4.

  5. Wiegratz, I., & Thaler, C. (2011, Jul). Hormonal contraception: what kind, when, and for whom? Dtsch Arztebl Int, 108(28-29), pp. 495-506.

  6. Thorneycroft, I., et al. (1999, Nov). Effect of low-dose oral contraceptives on androgenic markers and acne. Contraception, 60(5), pp. 255-62.

  7. Ludwig, M. (2015). Hormonelle Kontrazeption (2., aktualisierte Ausg.). Hamburg: optimist.

  8. Herkert, O., et al. (2001, Dec). Sex steroids used in hormonal treatment increase vascular procoagulant activity by inducing thrombin receptor (PAR-1) expression: role of the glucocorticoid receptor. Circulation, 104(23), pp. 2826-31.

  9. Gudermann, T. (2005). Endokrinpharmakologie. In F. Leidenberger, T. Strowitzki, & O. Ortmann (Hrsg.), Klinische Endokrinologie für Frauenärzte (3. vollständig überarbeitete und erweiterte Ausg., S. 187-220). Heidelberg: Springer Medizin Verlag.

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