Welche Partialwirkungen haben Gestagene?
Neben ihrer kontrazeptiven Verwendung können Gestagene aufgrund ihrer Partialwirkungen für verschiedene Indikationen therapeutisch eingesetzt werden.
Einteilung der Gestagene in Präparategenerationen
Gestagenwirkstoffe in Kontrazeptiva werden in der Literatur oft je nach Entwicklungszeitraum (Anfang 60iger, 70iger und 80iger) in drei Präparategenerationen aufgeteilt. Zur ersten Generation zählen Norethisteron-Derivate wie Norethisteron, Lynestrenol und Dienogest, zur zweiten Norgestrel-verwandte Substanzen wie Levonorgestrel und Norgestrel, zur dritten Generation ebenfalls Norgestrel-verwandte Substanzen wie Desogestrel, Norgestimat und Gestoden.1
Weitere Wirkstoffe wie Drospirenon (in oraler Form), Medroxyprogesteronacetat (in Injektionslösung), Norelgestromin (Pflaster) und Etonogestrel (Vaginalring) sowie Cyproteronacetat (Zulassung nur für Androgenisierungserscheinungen, nicht für die orale Kontrazeption) und Chlormadinonacetat (in oraler Form) werden als unklassifiziert bezeichnet.
Sinnvoller ist allerdings eine Einteilung der Gestagene nach ihrem Wirkungsspektrum. Einige Gestagene werden nur in Kombinations- und andere ausschließlich in Monopräparaten verwendet.
Einteilung der Gestagene nach pharmakologischer Wirksamkeit
Die Beurteilung der pharmakologischen Wirksamkeit der verschiedenen Gestagene erfolgt anhand ihrer Fähigkeit, die Menstruation zu verschieben und proliferiertes Endometrium sekretorisch umzuwandeln.2 Außerdem ist die Potenz, die Ovulation zu unterdrücken, ein entscheidendes Kriterium. Darüber hinaus können die unterschiedlichen Partialwirkungen (z. B. antiandrogen, mineralokortikoid etc.) der Gestagene bei verschiedenen Indikationen therapeutisch genutzt werden.
Auf Grund der strukturellen Ähnlichkeit des Progesteronrezeptors mit dem Androgen-, Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptor können Progesteron und die synthetischen Gestagene bzw. einige ihrer Metabolite an diese Rezeptoren binden und als Agonisten oder Antagonisten wirksam werden (Tab. 1). Das Spektrum der hormonalen Partialwirkungen und die Wirkungsstärke sind von der jeweiligen Struktur des Gestagens abhängig. Da einen wesentlichen Einfluss auf die Partialwirkung v. a. die lokale Konzentration des Gestagens in den Zielzellen hat, ist es falsch, hier von einem „Klasseneffekt“ zu sprechen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Angaben für die Partialwirkungen überwiegend aus Tierexperimenten stammen und somit nur mit Vorbehalt auf die Klinik übertragen werden können.
Die wichtigste Entscheidung bei der Erstverschreibung eines Präparates durch den Frauenarzt fällt mit der Wahl der Gestagenkomponente. Nach den Empfehlungen der Arzneimittelbehörden3 sowie der Bundesärztekammer4 gelten aufgrund eines vergleichsweise niedrigen Risikos für venöse Thromboembolien Kombinationen von Levonorgestrel und Ethinylestradiol (in einer Dosierung von 30 µg oder weniger) als Methode der ersten Wahl für die Erstverordnung bei Frauen ohne Kontraindikationen oder spezielle Begleiterkrankungen bzw. bei Frauen mit erhöhtem Thromboserisiko.
Bei bereits bestehenden Androgenisierungserscheinungen (Akne, Alopezie, Hirsutismus) sollten Präparate mit antiandrogenen Gestagenen erwogen werden, insbesondere Kombinationen mit Dienogest, die zur Behandlung der mittelschweren Akne arzneimittelrechtlich zugelassen sind.
Tabelle 1: Partialwirkungen der Gestagene (modifiziert nach Wiegratz & Thaler 2011 5, Kuhl 20052)
Bei prädisponierten Frauen, besonders bei Jugendlichen, kann die Anwendung von Gestagenen mit androgener Partialwirkung zu leichten Androgenisierungserscheinungen (Akne, Seborrhoe oder Hirsutismus) führen. Dies wurde z. B. bei Levonorgestrel (LNG) oder 3-Keto-Desogestrel (KDG) beobachtet. Ursache sind höchstwahrscheinlich Funktionsstörungen innerhalb des Haarfollikels bzw. der Talgdrüsen durch erhöhte Serumkonzentrationen von Testosteron.6 Die unter der Behandlung mit Depot-MPA beobachteten leichten androgenen Erscheinungen hängen wohl meist mit einem Östrogenmangel auf Grund einer starken Suppression der Ovarialfunktion zusammen. Hoch dosierte Gestagene mit androgener Partialwirkung können außerdem zu einer Beeinträchtigung des Lipoproteinprofils mit einem ungünstigen VLDL/HDL-Verhältnis führen. Auf Grund der heute gebräuchlichen niedrigen Dosierung kommt es jedoch meist zu keiner klinisch relevanten negativen Beeinflussung der Parameter des Lipidproteinstoffwechsels. Auch ist davon auszugehen, dass die heute niedrig dosierten hormonalen Kontrazeptiva zu keiner nennenswerten Störung der Glukosetoleranz führen. Bei einem manifesten Diabetes ist der Einfluss jedoch nicht vorhersehbar.
Die antiandrogenen Effekte von einigen Gestagenen können bei Akne, Hirsutismus oder androgenetischer Alopezie ausgenutzt werden, hier kommen Chlormadinonacetat (CMA), Cyproteronacetat (CPA), Dienogest oder Drospirenon in Frage (Abb. 1).7
Die glukokortikoiden Eigenschaften von Desogestrel (DSG) und Gestoden (GSD) kann in den üblichen Dosierungen für die Gefäßwände von Bedeutung sein. Grund kann eine Hochregulation des Thrombinrezeptors in den vaskulären glatten Muskelzellen sein.8 Durch die Aktivierung des Thrombinrezeptors kann Thrombin die Bildung des Tissue-Factors stimulieren. Dadurch wird die prokoagulatorische und vasokonstriktorische Aktivität in der Arterienwand verstärkt. Entsprechend wäre bei Vorliegen von Gefäßschäden das Risiko von ischämischen Erkrankungen erhöht. Möglicherweise trägt dieser Effekt auch zur Erhöhung der Inzidenz venöser thromboembolischer Erkrankungen bei, die bei der Anwendung von Ovulationshemmern der 3. Generation beobachtet wurde. Demnach würden nicht die androgenen, sondern die glukokortikoiden Eigenschaften der Gestagene bei der Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen eine Rolle spielen.
Neulen, J. (2003). Kontrazeption: Welche Methoden stehen zur Verfügung? Frauenarzt, 44, S. 294-8.
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Rote-Hand-Brief. (30. Januar 2014). Kombinierte hormonale Kontrazeptiva: Unterschiede hinsichtlich des Thromboembolie-Risikos unterschiedlicher Präparate; Bedeutung von individuellen Risikofaktoren und Beachtung von Anzeichen und Symptomen.
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Thorneycroft, I., et al. (1999, Nov). Effect of low-dose oral contraceptives on androgenic markers and acne. Contraception, 60(5), pp. 255-62.
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Gudermann, T. (2005). Endokrinpharmakologie. In F. Leidenberger, T. Strowitzki, & O. Ortmann (Hrsg.), Klinische Endokrinologie für Frauenärzte (3. vollständig überarbeitete und erweiterte Ausg., S. 187-220). Heidelberg: Springer Medizin Verlag.
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