Hormonelle Kontrazeption bei Kopfschmerzen und Migräne

Frauen leiden häufig an Migräne – insbesondere während der fruchtbaren Jahre, wenn eine sichere Kontrazeption gewünscht ist. Da Migräne hormonabhängig auftreten kann, spielt die Wahl des Kontrazeptivums eine wichtige Rolle.


Differenzierte Auswahl des Kontrazeptivums

Die Prävalenz von Kopfschmerzen und Migräne ist bei Frauen in den USA und Westeuropa mit 18% höher als bei Männern (6%). Bis zu 30% der Migränepatienten leiden zusätzlich an neurologischen Symptomen wie Seh-, Sprach- und Sensibilitätsstörungen, die auch unter dem Begriff „Aura“ zusammengefasst werden. Meist gehen sie den Kopfschmerzen voraus. Bei Frauen tritt sie insbesondere in der fertilen Phase auf und es konnte gezeigt werden, dass Kopfschmerzen sowie Migräne hormonabhängig sein können.1,2

Migräne ist nicht gleich Migräne

Etwa jede zweite Frau beschreibt einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Migräne und ihrem Monatszyklus. Die meisten dieser Migränepatientinnen leiden dabei an „menstruell assoziierter Migräne“. Diese ist definiert als Migräne ohne Aura, die etwa zwei Tage vor bis drei Tage nach der Menstruation sowie auch während anderer Zyklusphasen auftritt und den überwiegenden Teil der Zyklen (d.h. >66%) betrifft. Im Gegensatz dazu findet sich die „menstruelle Migräne“ ausschließlich an den Tagen kurz vor oder nach der Menstruation. Von beiden Formen sind am häufigsten Frauen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren betroffen. Es wird angenommen, dass vor allem das plötzliche prämenstruelle Absinken von Estradiol an der Entstehung der Kopfschmerzattacken beteiligt ist.3,4,5,6

Migräne und hormonelle Kontrazeption

Kopfschmerzen bzw. Migräne sind bei der Wahl eines Kontrazeptivums grundsätzlich als mögliche Risikofaktoren zu berücksichtigen. Aufgrund der unterschiedlichen Konsequenzen für die Therapieentscheidung muss dabei jedoch genau differenziert werden, um welche Art Kopfschmerz bzw. Migräne es sich handelt: So ist der Einsatz von Gestagenmonopräparaten oder kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) im Langzyklus bzw. kontinuierlich eingenommen bei zyklusabhängigen, nicht migräneartigen Kopfschmerzen ohne Aura möglich und oft sogar von Nutzen. Daher muss bei einer Migräne stets unterschieden werden, ob diese mit einer Aura einhergeht oder nicht.1 Eine Aura manifestiert sich meist mit visuellen Symptomen (Augenflimmern, Gesichtsfeldausfälle), seltener mit sensiblen Symptomen (Kribbeln, Taubheitsgefühle) oder Sprachstörungen.2,5

Leitlinienempfehlungen zu Migräne und hormonellen Kontrazeptiva

Die S3-Leitlinie zur hormonellen Empfängnisverhütung2 weist ausdrücklich darauf hin, dass Patientinnen mit einer besonders schwer behandelbaren menstruellen Migräne (Migräneform ohne Aura) von einer kontinuierlichen KOK-Einnahme profitieren können – vorausgesetzt sie sprechen nicht auf klassische Medikamente zur Migräneprophylaxe an. Grund hierfür sind die gleichmäßigen Hormonspiegel, die sich unter der Langzeiteinnahme eines KOK im Körper einstellen: Sie verhindern das physiologische Absinken des Estradiolspiegels am Zyklusende, das als typischer Auslöser für Migräneattacken gilt.2

Anders verhält es sich bei einer Migräne mit Aura. Diese kann sich unter einer hormonellen Kontrazeption verschlimmern oder mit Anwendungsbeginn erstmals auftreten, insbesondere bei kombinierten hormonellen Kontrazeptiva (KHK) wie den weit verbreiteten KOK. Zudem haben Studien gezeigt, dass Migränepatientinnen unter KHK-Anwendung ein erhöhtes Risiko für vaskuläre Ereignisse (z.B. Schlaganfälle) haben. Das gilt insbesondere für Frauen, deren Migräne mit einer Aura einhergeht. Das Risiko eines ischämischen Schlaganfalls ist bei Migränepatientinnen bereits ohne die Anwendung eines hormonellen Kontrazeptivums erhöht, steigt jedoch durch eine KHK-Anwendung noch weiter an (Tab. 1). Aus diesem Grund wird die Anwendung von KHK bei Migränepatientinnen nur eingeschränkt empfohlen, bei Migränepatientinnen mit Aura wird ausdrücklich davon abgeraten. Tritt unter einer KHK-Anwendung erstmalig eine Migräne mit Aura auf, soll das KHK abgesetzt werden.2

Gestagenmonopräparate können hingegen Frauen mit Migräne mit oder ohne Aura verordnet werden, sofern diese keine zusätzlichen Risikofaktoren für arterielle thromboembolische Ereignisse (ATE) aufweisen. Allerdings sollten auch Gestagenmonopräparate abgesetzt werden, wenn es unter der Anwendung zum Neuauftreten einer Migräne mit Aura kommt.2

Tabelle 1: Absolutes Risiko für einen ischämischen Hirninfarkt bei Frauen im Alter von 20-44 Jahren in Abhängigkeit zur Anwendung hormoneller Kontrazeptiva und Migränestatus.2

  Keine Migräne Migräne mit Aura Migräne ohne Aura
Ohne hormonelle Kontrazeption 2,5/100.000 5,9/100.000 4,0/100.000
Mit hormoneller Kontrazeption 6,3/100.000 36,9/100.000 25,4/100.000

Zur Anwendung von Gestagenmonopräparaten bei Migränepatientinnen liegen nur wenige Studiendaten vor. Allerdings ergaben sich in zwei großen epidemiologischen Studien keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für vaskuläre Ereignisse.2

Dementsprechend werden in Leitlinien, wie z.B. der S3-Leitlinie zur hormonellen Empfängnisverhütung2 sowie den WHO-Empfehlungen zur Kontrazeption7, Gestagenmonotherapien bei Migränepatientinnen unter Berücksichtigung besonderer Gegebenheiten empfohlen. Demzufolge können Frauen mit Migräne ohne Aura Gestagenmonopräparate ohne wesentliche Einschränkung einnehmen. Pillen, die ausschließlich ein Gestagen enthalten (Progestogen-only Pills, POP), wurden bisher nicht mit einem erhöhten Risiko für thromboembolische oder ischämische Ereignisse assoziiert und gelten im Hinblick auf die Sicherheit als die günstigste Option. KOK sind hingegen aufgrund des thromboembolischen Risikos bei Migränepatientinnen ohne Aura kontraindiziert, insbesondere, wenn betreffende Frauen rauchen oder über 35 Jahre alt sind.1,2,7 Patientinnen mit Migräne mit Aura rät die WHO generell von hormonellen Kontrazeptiva, d.h. sowohl KOK als auch POP, ab.7

Die WHO unterscheidet bei der Bewertung von Kontrazeptionsmethoden grundsätzlich vier verschiedene Kategorien:7

  1. Die Methode kann ohne Einschränkungen angewendet werden
  2. Die Vorteile überwiegen meist die Risiken
  3. Die Risiken überwiegen meist die positiven Effekte (relative Kontraindikation)
  4. Es besteht ein inakzeptables gesundheitliches Risiko (absolute Kontraindikation)

Bei Patientinnen mit nicht migräneartigen Kopfschmerzen ist laut WHO sowohl die Anwendung von Gestagenmonopräparaten als auch die Anwendung von KHK möglich. Während Gestagenmonopräparate ohne Einschränkung angewendet werden können (WHO 1), überwiegt nach Einschätzung der WHO für KHK meist der Nutzen. Es gilt die Empfehlungskategorie WHO 1 für die Erstverordnung bzw. WHO 2, wenn während der bereits laufenden KHK-Anwendung Kopfschmerzen auftreten.7

Für Patientinnen mit Migräne ohne Aura, die keine weiteren Risikofaktoren für einen Schlaganfall haben, empfiehlt die WHO folgendes Vorgehen:7

  • Für Patientinnen < 35 Jahre ist die Verordnung von KHK möglich, es gilt dabei die Kategorie WHO 2 für die Erstverordnung bzw. WHO 3, wenn während der bereits laufenden KHK-Anwendung erstmals eine Migräne auftritt.
  • Für Patientinnen ≥ 35 Jahre besteht bei Erstverordnung eine relative Kontraindikation (WHO 3) und eine absolute Kontraindikation (WHO 4), wenn unter der bereits laufenden KHK-Anwendung erstmals eine Migräne auftritt.

Für Migränepatientinnen mit Aura und ohne weitere Schlaganfall-Risikofaktoren sind KHK unabhängig vom Alter absolut kontraindiziert (WHO 4), da die KHK-Anwendung das Schlaganfallrisiko in dieser Situation um das 6-fache erhöht.1,7 Gestagenmonopräparate können für diese Patientinnen eine Alternative darstellen.

Für Patientinnen mit Migräne ohne Aura und ohne weitere Schlaganfall-Risikofaktoren überwiegt laut WHO unabhängig vom Alter bei allen Gestagenmonopräparaten einschließlich Injektionen mit Depot-Medroxyprogesteronacetat (DMPA) der Nutzen (WHO 1 bzw. 2).7

Für Migränepatientinnen mit Aura und ohne weitere Schlaganfall-Risikofaktoren gilt unabhängig vom Alter die Kategorie WHO 2 für die Erstverordnung bzw. WHO 3, sofern unter der bereits laufenden Therapie erstmalig eine Migräne auftritt.7

Profitieren Migränepatientinnen von der Einnahme einer Gestagenpille?

Gestagenpillen stabilisieren den Estrogenspiegel und haben daher möglicherweise einen positiven Einfluss auf die Schwelle der Schmerzwahrnehmung bei Migränepatientinnen. So deuteten Ergebnisse einer Auswertung von Schmerztagebüchern von Migränepatientinnen darauf hin, dass die Desogestrel-Pille bei der Mehrheit der Frauen einen positiven Effekt auf den Verlauf von Migräne mit und ohne Aura hat: Die Anzahl der Migränetage, der Einsatz von Analgetika und die Intensität der Migränesymptome reduzierten sich.8

Ähnliche Ergebnisse zeigte eine weitere Untersuchung: Frauen mit Migräne mit und ohne Aura führten 90 Tage vor Einnahme der Pille ein Schmerztagebuch.4 Darin dokumentierten sie die Anzahl der Tage mit Migräne sowie auch andere Arten von Kopfschmerz, deren Schmerzintensität und den Einsatz von Triptanen. Anschließend begannen sie mit der Einnahme der Desogestrel-Pille und führten ihre Dokumentationen über weitere 180 Tage fort. Die Auswertung ergab eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der Anzahl an Migränetagen über den gesamten Beobachtungszeitraum. Eine klinisch bedeutsame Schmerzreduktion um 30% ließ sich bei 60% der Frauen beobachten, wobei der stärkste Effekt auf die Migränehäufigkeit in den ersten 90 Tagen der Pilleneinnahme auftrat.4

Diese Untersuchung war auch Teil einer Metaanalyse aus dem Jahr 2017, die insgesamt vier gepoolte, nicht randomisierte Studien umfasste.3 Ihre Ergebnisse zeigten für die Anwendung einer Desogestrel-Pille eine signifikante Reduktion der Anzahl an Migräneattacken und Migränetagen. Die Autoren bewerteten die Desogestrel-Pille als vielversprechend im Hinblick auf die Linderung von migränebedingten Kopfschmerzen bei Frauen.3

  1. Römer T. Medical eligibility for contraception in women at increased risk. Dtsch Arztebl Int. 2019; 116: 764–74.

  2. S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015-015. Stand September 2020, Version 1.2. Online unter: register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015-015. Letzter Zugriff: 08.05.2023.

  3. Warhurst S et al. Effectiveness of the progestin-only pill for migraine treatment in women: A systematic review and meta-analysis. Cephalgia Int Head Soc 2017; 38(4):754–764.

  4. Merki-Feld GS et al. Positive effects of the progestin desogestrel 75μg on migraine frequency and use of acute medication are sustained over a treatment period of 180 days. The J of Headache and Pain 2015; 16:39.

  5. Deutsches Ärzteblatt. Migräne Patientinnen: Differenzierte Auswahl des Kontrazeptivums. Dtsch Ärztebl 2012; 109(3): A-103. Online unter: www.aerzteblatt.de/archiv/118997/Migraene-Patientinnen-Differenzierte-Auswahl-des-Kontrazeptivums. Letzter Zugriff: 10.05.2023.

  6. Ahrendt HJ et al. Präventive Wirkung hormoneller Kontrazeptiva bei menstrueller Migräne. Frauenarzt 2007; 48:12.

  7. World Health Organisation (WHO). Medical eligibility criteria for contraceptive use. A WHO family planning cornerstone. Fifth edition, 2015. Online unter: apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/181468/9789241549158_eng.pdf;jsessionid=7ED5FC15F5921968F1F6EC2B4F0D2E61. Letzter Zugriff: 10.05.2023.

  8. Nappi RE et al. Hormonal contraception in women with migraine: is progestogen-only contraception a better choice? J Headache Pain. 2013; 14(1):66.

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