Kontrazeption in Risikosituationen – Teil 3 von 3: Neurologische Begleiterkrankungen wie Migräne und Epilepsie

Bei etwa der Hälfte aller Frauen lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Migräne und dem Monatszyklus feststellen.¹ Meistens handelt es sich dabei um eine „menstruell assoziierte Migräne“. Diese ist definiert als Migräne ohne Aura, die etwa zwei Tage vor bis drei Tage nach der Menstruation sowie auch während anderer Zyklusphasen auftritt und dabei den überwiegenden Teil aller Zyklen betrifft. Im Gegensatz dazu tritt die „menstruelle Migräne“ ausschließlich bis zu zwei Tage vor und bis zu drei Tage nach der Menstruation auf. [2,3] Frauen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren sind von beiden Formen am häufigsten betroffen. [2] Für Migränepatientinnen, die hormonell verhüten wollen, stellen reine Gestagenpillen (POP, progestin-only pills) eine risikoärmere Option dar als kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK). [3] Auch bei einer anderen neurologischen Erkrankung, der Epilepsie, sollte die Wahl des Kontrazeptivums mit Bedacht erfolgen.


Rund 18% aller Frauen in Westeuropa leiden unter Migräne, die damit eine der häufigsten Kopfschmerzformen überhaupt darstellt. [3,4] Das prämenstruelle Absinken des Östrogens am Ende des Zyklus bzw. bei KOK-Anwenderinnen während der Pillenpause gilt als typischer Auslöser. Bei vielen Patientinnen treten die Migräneattacken häufig oder sogar ausschließlich kurz vor Einsetzen oder während der Menstruation bzw. Abbruchblutung auf (menstruelle Migräne, Form von Migräne ohne Aura). [3] Laut aktueller WHO-Empfehlung können Frauen mit Migräne ohne Aura, sofern sie hormonell verhüten wollen, ohne wesentliche Einschränkung Gestagenmonopräparate anwenden bzw. einnehmen. [3,5] POP wurden bisher nicht mit einem erhöhten Risiko für thromboembolische oder ischämische Ereignisse in Verbindung gebracht. Sie gelten im Hinblick auf die Sicherheit als eine günstige Option, da in hormonellen Kontrazeptiva hauptsächlich die Östrogenkomponente für die Risikoerhöhung dieser Ereignisse verantwortlich ist. [1,3] Gestagenmonopräparate werden in den aktuellen S3-Leitlinien bei Migränepatientinnen „...unter Berücksichtigung besonderer Gegebenheiten durchaus empfohlen.“ [3] Zudem konnte gezeigt werden, dass unter der Desogestrel-Pille die Anzahl der Migräneattacken sowie deren Dauer und Intensität abnimmt. [1] Patientinnen mit menstrueller Migräne können aber auch von einer kontinuierlichen KOK-Einnahme profitieren. [3]

 

Für Patientinnen mit Migräne, die keine weiteren Risikofaktoren für einen Schlaganfall haben, empfiehlt die WHO folgendes Vorgehen (WHO-Kategorien siehe Tabelle): [5]

  • Für Patientinnen mit Migräne ohne Aura < 35 Jahre ist die Verordnung von KOK möglich, es gilt dabei die Kategorie WHO 2 für die Erstverordnung bzw. WHO 3, wenn während der bereits laufenden KOK-Anwendung erstmals eine Migräne auftritt.
  • Für jene Patientinnen ≥ 35 Jahre besteht bei Erstverordnung von KOK eine relative Kontraindikation (WHO 3) und eine absolute Kontraindikation (WHO 4), wenn unter der bereits laufenden KOK-Anwendung erstmals eine Migräne auftritt.
  • Für Patientinnen mit Migräne ohne Aura überwiegt laut WHO unabhängig vom Alter bei allen Gestagenmonopräparaten der Nutzen (WHO-1- bzw. -2-Kategorie).
  • Für Migränepatientinnen mit Aura gilt unabhängig vom Alter die Kategorie WHO 2 für die Erstverordnung bzw. WHO 3, sofern unter der bereits laufenden Gestagenmonotherapie erstmalig eine Migräne auftritt.
  • Da die Differenzialdiagnostik von Kopfschmerzen bzw. Migräne mit oder ohne Aura schwierig sein kann, sollte vor der Verordnung eines KOK der behandelnde Neurologe konsultiert werden. [4]

 

Kategorien und klinische Beurteilung in den WHO-Empfehlungen zur Kontrazeption: [5]

Kategorie 1

unbeschränkte Anwendung der Methode
Kategorie 2Nutzen überwiegt das Risiko
Kategorie 3Risiko überwiegt den Nutzen; daher ist ggf. eine sorgfältige Überwachung notwendig; auf Patientinnenwunsch ist eine Anwendung nach ausführlicher Aufklärung und beim Fehlen von Alternativen möglich (relative Kontraindikation)
Kategorie 4keine Anwendung der Methode aufgrund zu hoher Gesundheitsrisiken (absolute Kontraindikation)

 

Vorsicht ist insbesondere geboten bei einer Migräne mit Aura. Diese kann sich unter hormoneller Kontrazeption verschlimmern oder mit Beginn einer KOK-Anwendung erstmals auftreten. [3] Zudem haben Studien gezeigt, dass Migränepatientinnen unter KOK-Anwendung ein erhöhtes Risiko für vaskuläre Ereignisse wie Schlaganfälle aufweisen. [3] Das Risiko eines ischämischen Apoplex ist bei Migränepatientinnen bereits ohne die Einnahme eines hormonellen Kontrazeptivums erhöht, steigt jedoch durch die Einnahme eines KOK noch weiter an. [3] Aus diesem Grund wird die Anwendung von KOK bei Migränepatientinnen von aktuellen Leitlinien nur eingeschränkt empfohlen, bei Migränepatientinnen mit Aura wird ausdrücklich davon abgeraten. Tritt unter der Anwendung von KOK erstmalig eine Migräne mit Aura auf, sollte die Einnahme des KOK beendet werden. [3] Für Migränepatientinnen mit Aura und ohne weitere Schlaganfall-Risikofaktoren sind KOK unabhängig vom Alter nach WHO absolut kontraindiziert (WHO 4), da die KOK-Anwendung das Schlaganfallrisiko in dieser Situation um das 6-fache erhöht. [4,5]

 

„No risk products“

In einem Konsensus-Statement der EHF und der ESC (European Headache Federation bzw. European Society of Contraception and Reproductive Health) wurden Gestagenmonopräparate für Patientinnen in Bezug auf ein mögliches Schlaganfallrisiko als „no risk products“ bewertet. [6] Darüber hinaus werden POP für Migränepatientinnen mit Aura als Option empfohlen. Wenden Patientinnen in diesem Szenario bereits KOK an, wird ein Wechsel zu einem Gestagenmonopräparat nahegelegt. Liegt eine Migräne ohne Aura zusammen mit weiteren Risikofaktoren wie Rauchen, Hypertonie oder Adipositas vor, werden Gestagenmonopräparate wie POP als bevorzugte hormonelle Option empfohlen. [6]

 

Herausforderung „hormonelle Verhütung bei Epilepsie“

Zyklische Hormonveränderungen können die Manifestation epileptischer Anfälle begünstigen. Allerdings wurde in Studien bislang kein direkter Zusammenhang zwischen der Anwendung von KOK und einer Zunahme von Epilepsien bzw. einer erhöhten Anfallsfrequenz beobachtet. [5] Laut WHO gilt deshalb für Epileptikerinnen, die keine Antiepileptika einnehmen, dass KOK und Gestagenmonopräparate uneingeschränkt angewendet werden können. [5]

 

Problematisch kann hingegen eine mögliche Interaktion hormoneller Kontrazeptiva mit Antiepileptika sein. Letztere haben unterschiedliche Wirkungen auf den hepatischen Stoffwechsel und können zu einer Enzyminduktion führen. Dadurch können einige antiepileptische Wirkstoffe den kontrazeptiven Schutz der KOK reduzieren oder sogar ganz aufheben. Andersherum können auch hormonelle Kontrazeptiva die Wirksamkeit bestimmter Antiepileptika negativ beeinflussen. [5] Inwiefern Antiepileptika mit Gestagenmonopräparaten wechselwirken, ist abhängig vom Antiepileptikum: Bestimmte Antiepileptika reduzieren den empfängnisverhütenden Schutz oraler und parenteraler Gestagenmonopräparate. [5] Zwischen dem gängigen Antiepileptikum Lamotrigin und Gestagenmonopräparaten sind aber beispielsweise keine Wechselwirkungen bekannt. [3] Sie stellen deshalb für Lamotrigin-behandelte Frauen eine gute Alternative zur Anwendung von KOK dar.

 

In einem aktuellen Überblick der FSRH (Faculty of Sexual & Reproductive Healthcare des Royal College of the Obstetricians and Gynaecologists (UK)) werden für Patientinnen mit Epilepsie generell keine Restriktionen für die Anwendung von Gestagenmonopräparaten genannt. [7]

 

Fazit

  • Die Migräne stellt eine der häufigsten Kopfschmerzformen überhaupt dar und kann in Abhängigkeit vom Zyklus der Frau auftreten. [3]
  • Laut aktueller WHO-Empfehlung können Frauen mit Migräne ohne Aura Gestagenmonopräparate ohne wesentliche Einschränkung einnehmen. [3,5]
  • Gestagenmonopräparate werden in einem fachgesellschaftsübergreifenden Konsensus-Statement für Migränepatientinnen mit Aura als Option empfohlen. [6]
  • Desogestrel-Pillen können Häufigkeit, Dauer und Intensität der Migräne verringern. [1]
  • Zyklische Hormonveränderungen können die Manifestation epileptischer Anfälle beeinflussen. [5]
  • Für Patientinnen mit Epilepsie werden keine Restriktionen für die Anwendung von Gestagenmonopräparaten genannt. [7]

 

Referenzen

[1] Merki-Feld GS et al. Positive effects of the progestin desogestrel 75μg on migraine frequency and use of acute medication are sustained over a treatment period of 180 days. J Headache Pain 2015; 16: 39

[2] Ahrendt HJ et al. Präventive Wirkung hormoneller Kontrazeptiva bei menstrueller Migräne. Frauenarzt 2007; 48: 12

[3] S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015-015. Stand: September 2020. Version: 1.2. Online unter: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-015l_S3_Hormonelle_Empfaengnisverhuetung_2020-09.pdf. Letzter Zugriff: 19.04.2021

[4] Römer T. Kontrazeption bei Patientinnen mit Risikokonstellation. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 764-74

[5] World Health Organization: Medical eligibility criteria for contraceptive use. Fifth Edition, 2015. apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/181468/9789241549158_eng.pdf. Letzter Zugriff: 19.04.2021

[6] Sacco S et al. Hormonal contraceptives and risk of ischemic stroke in women with migraine: a consensus statement from the European Headache Federation (EHF) and the European Society of Contraception and Reproductive Health (ESC). J Headache Pain 2017; 18(1): 108

[7] UK Medical Eligibility Criteria for Contraceptive Use, UKMEC 2016. ukmec.pagelizard.com/2016. Letzter Zugriff: 19.04.2021

 

 

 


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